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Das graue Elend von Potsdam

  • Autorenbild: Heike Gehrmann
    Heike Gehrmann
  • 15. Sept.
  • 4 Min. Lesezeit

„Die Zeit der Untersuchungshaft in der Lindenstraße war das Unmenschlichste, was man sich vorstellen kann,“ sagt der Schauspieler Jochen Stern (geb. 1928). Ihn hatte der sowjetische Geheimdienst 1947 als politischen Gegner festgenommen und im Potsdamer Gefängnis Lindenstraße inhaftiert.


Das Schicksal von Jochen Stern ist eines von Tausenden Menschen, die nach 1945 in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) Opfer der Errichtung einer neuen Diktatur stalinistischer Prägung wurden.



Karte der Besatzungszonen 1945–1949 © Stiftung Gedenkstätte Lindenstraße
Karte der Besatzungszonen 1945–1949 © Stiftung Gedenkstätte Lindenstraße

Die neue Sonderausstellung "Das graue Elend von Potsdam" der Stiftung Gedenkstätte Lindenstraße ab 26. September 2025 nimmt diese sowjetische Nutzungsphase des Justiz- und Haftortes Lindenstraße in den Blick.


Vor 80 Jahren beschlagnahmte der sowjetische Geheimdienst das Areal in der Potsdamer Lindenstraße. Es wurde anschließend sowohl für die Durchführung der Entnazifizierung als auch im Kontext der sowjetischen Herrschaftssicherung als überregionales Sammel-, Untersuchungs- und Durchgangsgefängnis sowie als Sitzungsort Sowjetischer Militärtribunale. Dort wurden im Gerichtssaal in Prozessen, die keinerlei rechtsstaatlichen Grundsätzen entsprachen, unverhältnismäßig hohe Strafen bis hin zur Todesstrafe verhängt.


Sowjetisches Strafgesetzbuch von 1926, Ausgabe 1950 © Stiftung Gedenkstätte Lindenstraße, Foto: Hagen Immel
Sowjetisches Strafgesetzbuch von 1926, Ausgabe 1950 © Stiftung Gedenkstätte Lindenstraße, Foto: Hagen Immel

Insgesamt waren bis zur Übergabe des Gebäudekomplexes an das Ministerium für Staatssicherheit der DDR im Sommer 1952 mehr als 200 Menschen unter katastrophalen Bedingungen inhaftiert. Diese Erkenntnisse verdeutlichen die Dimensionen des sowjetischen Haft- und Tribunalorts in der Potsdamer Innenstadt und dessen internationale Bezüge.


In neuesten Forschungen konnte die Stiftung Gedenkstätte Lindenstraße erstmals für den Zeitraum von 1945 bis Januar 1950 insgesamt 1860 Personen als Inhaftierte identifizieren. Darunter befanden sich 224 Frauen (12 Prozent), 109 Jugendliche unter 18 Jahren (6 Prozent) sowie 333 Personen (18 Prozent) aus über 15 Nationen Europas.


Basierend auf den Forschungen präsentiert die neue Sonderausstellung exemplarisch 26 Biografien von Inhaftierten und Verurteilten. Sie wurden entweder als NS- oder Kriegsverbrecher verhaftet, wie beispielsweise der hochrangige Bankier Ferdinand Niedermeyer (1874 -1947), der im Zweiten Weltkrieg im von der Wehrmacht besetzten Frankreich die „Arisierung“ jüdischer Unternehmen verantwortete, oder der Babelsberger SA-Angehörige Paul Boese, der wegen Misshandlung sowjetischer Bürger verhaftet wurde.


Blick durch den Türspion in eine Zelle, Zeichnung von Gerd Utech, 2005 © Stiftung Gedenkstätte Lindenstraße
Blick durch den Türspion in eine Zelle, Zeichnung von Gerd Utech, 2005 © Stiftung Gedenkstätte Lindenstraße

Neben den Fällen im Rahmen der Entnazifizierung werden auch Schicksale von Männern und Frauen präsentiert, die als politische Gegner im Zuge der Herrschaftsdurchsetzung festgenommen wurden. Dazu gehört zum Beispiel der Spremberger Sozialdemokrat Ernst Tschickert, der schon in der NS-Diktatur zehn Jahre in verschiedenen Gefängnissen und KZ inhaftiert gewesen war und 1949 vom sowjetischen Geheimdienst verhaftet und wegen Spionage verurteilt wurde. Tschickert starb 1951 im sibirischen Strafarbeitslager Taischet.


Erstmals nimmt die Stiftung Gedenkstätte Lindenstraße mit dieser Ausstellung auch das Personal des in Potsdam tätigen sowjetischen Geheimdienstes in den Blick - unter anderem den langjährigen Leiter der Ermittlungsabteilung Iwan Siwakow (1917 - unbekannt), über dessen Gewaltausbrüche während der Verhöre in der Lindenstraße etliche Überlebende in ihren Erinnerungen berichteten.

 

Die neue Sonderausstellung erweitert den bisher bekannten Wissensstand über den Haft- und Tribunalort Lindenstraße um ein Vielfaches. Dennoch bleiben mangels entsprechender Quellen weiterhin Leerstellen und ungeklärte Fragen für kommende Forschungs- und Ausstellungsprojekte. Zur Ausstellung erscheint ein begleitender Katalog.



© Stiftung Gedenkstätte Lindenstraße
© Stiftung Gedenkstätte Lindenstraße

In Kooperation mit verschiedenen Partnern bietet die Stiftung Gedenkstätte Lindenstraße ein Begleitprogramm, unter anderem mit Zeitzeugen-Gespräch, Lesungen, Vorträgen und Filmvorführung sowie einer Führung auf dem Gelände der Villa Ingenheim (heute vom ZMSBw genutzt), wo sich von 1945 bis 1952 der Sitz des Sowjetischen Geheimdienstes NKWD/MGB befand.

 

Ausstellungs-Eröffnungs-Wochenende

Zum Eröffnungswochenende am 27. September 2025 um 11 Uhr findet ein Zeitzeugen-Gespräch mit Jochen Stern statt, der 1947/48 im Gefängnis Lindenstraße inhaftiert war.

Moderation: Gedenkstättenleiterin Maria Schultz

Ort: Gedenkstätte Lindenstraße, Großer Saal


Um 14 Uhr gibt die Co-Kuratorin und Gedenkstättenleiterin Maria Schulz vertiefende Einblicke in die Ausstellung.

Ort: Gedenkstätte Lindenstraße,

Maximal 20 Teilnehmende


Am 28. September 2025 um 15 Uhr wird eine Dialogführung mit Maria Schulz und Stefan Krikowski Vorsitzender der Lagergemeinschaft Workuta/GULag Sowjetunion, veranstaltet. 

Ort: Gedenkstätte Lindenstraße,

Maximal 20 Teilnehmende

 

Dazu gibt es in den kommenden Monaten ein Begleitprogramm - u.a.

2. Dezember 2025 | 25. März 2026, 16:30 Uhr

Sonderführung: NS-Verbrecher im Gefängnis Lindenstraße

Die Verhaftung und Verurteilung von NS-Verbrechern im Rahmen der Entnazifizierung in der Sowjetischen Besatzungszone.

Mit Bildungsreferent Michael Siems

Ort: Gedenkstätte Lindenstraße

Maximal 20 Teilnehmende

 

16. April 2026, 17 Uhr

Sonderführung: Die Villa Ingenheim als Sitz des sowjetischen Geheimdienstes NKWD

Mit Militärhistoriker PD Dr. John Zimmermann

In Kooperation mit dem Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (ZMSBw).

Ort: ZMSBw Potsdam, Zeppelinstraße 127/128

Maximal 20 Teilnehmende


Anmeldung für alle Termine bitte unter: info@gedenkstaette-lindenstrasse.de

 

Die Ausstellung wird gefördert von der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und dem Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kultur (MWFK) des Landes Brandenburg.


© Stiftung Gedenkstätte Lindenstraße
© Stiftung Gedenkstätte Lindenstraße

Mitten im Potsdamer Stadtzentrum steht die Gedenkstätte Lindenstraße für die Geschichte politischer Verfolgung und Gewalt in den unterschiedlichen Diktaturen des 20. Jahrhunderts in Deutschland – aber auch für den Sieg der Demokratie in der Friedlichen Revolution 1989/90. Die Dauerausstellung informiert in vier Bereichen über die Geschichte des Hauses. Im Mittelpunkt stehen dabei die Menschen, die während der NS-Diktatur, der sowjetischen Besatzungszeit und der SED-Diktatur aus politischen Gründen inhaftiert und verurteilt wurden – sowie die Menschen, die 1989/90 dazu beitrugen, die SED-Diktatur zu überwinden.


Heike Gehrmann

 

Weitere Infos:




 
 
 

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